Analytische Pädagogik

Analytische Pädagogik ist eine Methodik, die im Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen – vornehmlich im Rahmen einer stationären Hilfe (Heimunterbringung) – Anwendung findet. Die Unterbringung in Einrichtungen, die mit dieser Methodik arbeiten, wird von den belegenden Jugendämtern oft als (letzte) Alternative zur geschlossenen Unterbringung gewählt.

Allgemeine Problematik: Stationäre Jugendhilfe findet statt im Spannungsfeld ganz unterschiedlicher Interessen. Da ist zum einen die Gesellschaft, repräsentiert durch z.B. Jugendamt, Schule, Dorfgemeinschaft etc. mit ihrem berechtigten Interesse daran, dass die Kinder und Jugendlichen sich einfügen, das Zusammenleben nicht stören und nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden. Und da sind zum anderen die Kinder und Jugendlichen mit all dem Schlechten, Zerstörenden und Krankmachenden, das sie in ihrem Leben erlitten haben.

Grundsätzliche Annahmen: Verhaltensänderungen sind fast immer nur dann dauerhaft, wenn der Betroffene selbst das Bedürfnis hat, sein Verhalten zu ändern. Dies bedeutet keinesfalls, dass Pädagogen lediglich als Verhaltensbeobachter fungieren, Steuerung durch das Vorgeben einer klaren Struktur und eines Verhaltensrahmens ist unerlässlich. Reine Verhaltenstherapie alleine kann aber meist nur die Symptomatik verbessern und ändert nichts an den dem Verhalten zugrundeliegenden Ursachen.

Kurzer Abriss der Methodik:  Analytische Pädagogik geht davon aus, dass es bei jedem Menschen drei Bereiche gibt, in denen er emotional verletzbar/berührbar ist. In Analogie zur Freud’schen Psychoanalyse sind dies die Themen Versorgung (Orale Phase) Macht/Kontrolle (Anale Phase) und Selbstwert (Ödipale Phase). Auch analytische Pädagogik sieht Verhaltensauffälligkeiten (Neurosen) als Leistung. Sie erlauben den Menschen, ihre eigentlichen Verletzungen und Verletzbarkeiten vor sich selber und vor der Umwelt zu verbergen. Dinge, die wir unbewusst erleben, tun eben nicht ganz so weh und machen nicht ganz so viel Angst wie Dinge, derer man sich bewusst ist. Alle Menschen haben in ihrer Entwicklung mehr oder weniger schädliche Erfahrungen machen müssen und dies betrifft bei jedem Menschen alle Phasen der psychosozialen (psychosexuellen) Entwicklung. Auffällig (neurotisch) ist Verhalten dann, wenn es nicht gelingt, die Verletzungen, die aktuell (wenn auch unbewusst) besonders belasten, dergestalt zu kompensieren, dass die Umwelt nicht wahrnimmt, dass da etwas dringend kompensiert werden muss- sprich, dass wir Angst haben.

Die angesprochenen Verletzungen können mal mehr und mal weniger an die Oberfläche gelangen, können jedoch immer in die oben dargestellten Themenbereiche Versorgung, Macht/Kontrolle und Selbstwert eingeordnet werden. Menschen, die eine massive Versorgungsproblematik haben, leiden häufig unter Essstörungen, kauen Fingernägel, können es nur schwer oder gar nicht ertragen, wenn andere etwas haben, was sie selbst nicht haben etc. Eine andere Möglichkeit, seine Angst nicht übermächtig werden zu lassen, ist der Weg Kontrolle auszuüben. Was wir kontrollieren können, ängstigt uns nicht so sehr und wenn wir die Kontrolle haben, haben wir auch eine gewisse Macht. Die vermutlich ersten „Rangeleien“ zu dieser Thematik erleben Menschen während ihrer Sauberkeitserziehung. Kinder lernen zu kontrollieren, ob bzw. wann sie in die Windel machen und sind den Ansprüchen ihrer Eltern, es nicht bzw. zu einem von den Eltern gewünschten Zeitpunkt zu tun, ausgesetzt. Dies beinhaltet die Erfahrung, wie belastend es ist, der Kontrolle anderer ausgesetzt zu sein und wie wohltuend es andrerseits ist, selber die Macht/Kontrolle in der Hand zu haben. Im Sinne eines Wiederholungszwanges kreieren wir Menschen vertraute Situationen. Was vertraut ist, ängstigt nicht. Zudem zeigt sich genau an diesem Punkt der Nutzen/die Leistung einer Verhaltensauffälligkeit/Neurose: Wer stark und mächtig ist, wer die Situation kontrollieren kann, der ist doch wichtig und wertvoll.

Narzisstische Persönlichkeiten versuchen häufig durch Überkompensation, Allmachtsphantasien u.Ä. ihr defizitäres Selbstwertgefühl auszugleichen.

Werden Menschen mit „Fehlverhalten“ anderer konfrontiert, neigen sie dazu, spontan einem Impuls zu folgen. Es kommt entweder ein pädagogischer/lenkender oder ein analytischer/verstehender Impuls in ihnen hoch. Abhängig davon, welcher Impuls gebildet wird, erfolgt dann die Reaktion. Analytische Pädagogik geht anders vor: Wir holen ganz bewusst den Komplementärimpuls (also den nicht spontan entstandenen Impuls) in uns hoch, beraten uns -wo immer möglich- mit einem/den Kollegen, werden uns unserer Eigenanteile bewusst und können so -professionell distanziert- prüfen, ob es für den Jugendlichen hilfreicher ist, dem pädagogischen oder dem analytischen Impuls nachzugeben. Konsequent angewandt, erfahren die Kinder/Jugendlichen auf diese Weise, dass wir tatsächlich verstehen, warum sie handeln wie sie eben handeln. Die Botschaft lautet: „Denn ich weiß, wie Du tickst.“ Das Vertrauen, welches aus dieser Erfahrung entsteht, macht es den Kindern und Jugendlichen dann möglich, von sich aus neue Wege zu probieren und Ihr Verhalten den gesellschaftlichen Erfordernissen anzunähern, ohne ihre eigenen innerpsychischen Erfordernisse zu vernachlässigen.